Lübeck - Bremen

Als erstes als ich am Hauptbahnhof Lübeck ankomme fällt mir das Plakat der "Nationalen Sozialisten" auf. Wieso zur Hölle hängt dieser Dreck dort noch? Wahrscheinlich weil es so hoch hängt und auch ich gerade dringend meinen Zug bekommen muss und auch noch ein Ticket kaufen. Wieso zur Hölle gibt es überhaupt eine Partei die sich so nennen darf? Merke: abhängen gehen. Dann muss ich mit erschrecken feststellen, dass sich sowohl vor den Schaltern als auch vorm Automaten Schlangen befinden. Schmeckt mir gar nicht, ich bin ja schon in Eile. Ich entscheide mich für den Automaten, da sind weniger Leute und keine Gefahr, den gesamten Bahn-Preiskatalog vorgebetet zu bekommen. Aber als dann endlich die ältere Frau vor mir dran ist, ergibt sich ein Bild des Schreckens: Sie schafft es nach mehreren Versuchen ihr Ziel zu wählen. Sie muss 4 Euro bezahlen. Sie wirft zwei hinein, behält die anderen zwei in der Hand und starrt den Automaten an. Langsam beschleicht mich eine gewisse Ungeduldigkeit. Nachdem 20 Sekunden verstrichen sind hat der Automat ein Einsehen und gibt der armen Frau das Geld zurück. Sie ist sichtlich verwirrt. Ich wage es, in die Offensive zu gehen:"Sie müssen den vollen Fahrpreis zahlen, wenn sie ein Ticket haben wollen." Die junge Frau hinter mir muss hämisch grinsen, aber so wollte ich das eigentlich auch nicht. Die Automatenschlange ist inzwischen auf sieben Leute angewachsen. Das hat auch die ältere Frau bemerkt. Sie lässt mir den Vortritt:"Machen sie erst mal, dann sehe ich ja wie das geht." Ich demonstriere ihr den Vorgang:"Das Fahrziel haben sie ja eben richtig gewählt, aber ich muss nach Hamburg..." - bis Bremen geht nicht am Automaten - "...dann wähle ich hier Ermässigung, aber sie haben wohl keine Bahncard..." - "Nein" - "...und nun steht hier der Preis." Ich werfe die vollen 5,40 Euro ein und erhalte mein Ticket. Ich erbarme mich, ihr zu helfen, schliesslich fährt mein Zug erst in vier Minuten. Sie macht alles genau wie ich, bis auf das Fahrziel, das ist ja ein anderes. Ein wenig Verwirrung kommt noch auf, als ich ihre Eingabe um die Ermässigung (die ihr nicht zusteht) korrigiere. Als ich meinen Zug gerade noch rechtzeitig kriege, freue ich mich meines Lebens und meiner guten Tat, welche eventuell noch zwei oder drei andere aus der am Ende auf neun Leute angewachsenen Schlange ihren Zug erreichen lässt. Im Zug mache ich mich erstmal daran, "Russendisko" zu lesen. Eigentlich ganz amüsant. Nach einer Viertelstunde verspüre ich den Drang die Sanitären Anlagen des Zugs aufzusuchen. Das erste Klo erweist sich nach einem Weg von drei Wagen als einfach nicht existent. Ich bin in meiner Naivität den Schildern mit der Aufschrift "WC" gefolgt, welche einfach in den letzten Wagen führen. Aber hier will ich nun wirklich keinen der Sitze für die Handlungen benutzen, welche ich geplant hatte. Nachdem ich den halben Zug in entgegengesetzter Richtung durchquert habe, erreiche ich endlich das einzige im Zug vorhandene WC. Die Tür lässt sich nur leider nicht öffnen. Ich vermute, dass es ein freundlicher Mensch vom Personal von aussen verschlossen hat. Als Indiz für diese Vermutung kann ich immerhin das aussen angebrachte Schild werten. Darauf ist in grundschülerhafter Schrift mit grünem Edding "defekt" gekritzelt. In Hamburg angekommen geht es nicht besser weiter: Als Ich eiligst von der Rolltreppe stürme um ein Klo zu erreichen, kann ich es noch im letzten Moment verhindern Ben Becker umzurennen, der plötzlich vor mir steht. Ein Zusammenstoss mit diesem Schnösel hätte mir gerade noch gefehlt. Ich entscheide mich für das McD-Klo. Immer eine Sichere Sache, das. Da ich Zeitgleich mit meinem Bruder in Bremen eintreffen will, habe ich nach dem Ticketkauf plötzlich fast eine Stunde aufenthalt in Hamburg. Da ich die Stadt nicht wirklich kenne, entscheide Ich mich für einen kleinen Rundgang. Zuerst Richtung grosse Fussgängerzone. Karstadt, Görtz, Douglas - laaaangweilig. Ich gehe auf die andere Seite des Bahnhofs. Einfach ein paar Hundert Meter so eine Strasse lang und im Kreis zurück. Irgendwie sind hier nur billige Absteigen, Sexshops und Pornokinos. Als dann noch eine Junge, einschlägig aussehende Frau um halb fünf Nachmittags die Frage an mich richtet, ob ich denn eine Nummer wolle, kann ich mir gerade noch den ultraschlechten Spruch "Wieso? Ich hab doch schon einen Handyvertrag?" verkneifen. Verschämt ob des schlechten, unausgesprochenen Witzes schaue ich sie nur verwirrt an und gehe ohne Worte weiter, was sie wiederum verwirrt schauen lässt. Mein Regionalexpress nach Bremen hat ein paar Minuten Verspätung. Das ist mir immer noch lieber als der teilweise Ausfall den der "Ferienexpress nach Bozen" erleiden musste, was ständig über die Lautsprecher proklamiert wird. Genau genommen fällt ja auch nicht der Zug aus, sondern nur seine Fahrt. Aber ich glaube das ist den verärgert schauenden Fahrgästen auf dem Gleis gegenüber auch egal. Leider muss ich feststellen, dass ich nicht der einzige bin, der den Regionalexpress von Hamburg nach Bremen nehmen will. Nachdem ich durch mehrere Wagen erfolglos Plätze suchen war, lächelt mir eine Sympatisch wirkende Frau meines Alters entgegen und verkündet, dass ich in diesem Wagen wohl auch keinen Platz finden würde. Das sehe ich sofort ein und bleibe auch direkt stehen, da ein Gespräch mit ihr mir als die bessere Alternative im Vergleich zur erfolglosen Sitzplatzsuche erscheint. Da jedoch weder ich noch sie den Anfang machen stehen wir erstmal nur dumm da und lauschen dem Gespräch der Gothic-Kids neben uns. Als die wilde Konversation in ihrem absoluten Höhepunkt gipfelt müssen wir beide uns breitestens Grinsend das laute Auflachen verkneifen:"...aber es ist ja schon eindeutig so, dass die Wissenschaft komplett die Fantasie und die Kreativität abtötet." Vor der nächsten Haltestelle kommen aus dem unteren Teil unseres Wagens zwei Menschen. Da sonst keiner von unseren stehenden Mitfahrern zu verstehen scheint, dass zwei Plätze freigeworden sein müssen, nehme ich gerne einen der Plätze ein, neben der sympathischen Frau. Zunächst machen wir uns ein wenig über die abstruse Diskussion lustig, dann unterbreite ich ihr die Theorie, dass sich an diesen Leuten mal wieder meine These bestätigt hätte, dass Karriere machen schwachsinn ist. Sektenguru muss man werden um reich zu werden. Danach ist erstmal Stille und sie lernt Lateinvokabeln. Dann drängen sich jedoch hinter unseren Rücken die folgenden Gesprächsfetzen den Weg in unsere Hirne:"...was macht denn dein Freund?" - "Der studiert Wirtschaft." - "Oh, Ich auch." - "Du gehst auch zur Uni?" - "Nee, ich geh auf FH". Auf FH also. Über diesen Beweis dafür, dass Pisa mehr als eine Stadt ist, kriegen wir schliesslich doch noch die Kurve um ein nettes Gespräch zu führen. Auf einmal sind wir auch schon in Bremen. Sie steigt um, ich bin am Ziel. Seltsames nebeneinander herschreiten. "Du bist mir sympathisch, ruf doch mal an, falls du mal nach Berlin kommst. Hier ist meine Nummer" - Nein. Stattdessen: "Tschüss" - "Schöne Fahrt noch". Ärgerlich eigentlich, dass ich in solchen Dingen schlecht bin. Ich warte jedenfalls in der Haupthalle und beobachte zum Zeitvertreib ein kleines Kind. Etwa drei Jahre, krause Haare, dunkle Haut. Die Eltern beobachten es ebenfalls. Es sieht putzig aus, wie es so herumläuft und all die Menschen mit grossen Augen betrachtet. Ein paar Meter weiter steht ein extrem untersetzter, glatzköpfiger Typ, circa 60. Auch er scheint seine Freude an der Beobachtung des Kindes zu haben. Er belässt es jedoch nicht beim beobachten. Das Kind soll offenbar angelockt werden. Dazu hat er sich eine total kluge Strategie ausgedacht. Kurz überlege ich, ob ich ihm sagen soll, dass er irgendwie ziemlich pervers aussieht, wie er dort mit hochrotem Kopf steht und lauteste Knutschlaute von sich gibt. Aber er merkt nach zwei Minuten selbst, dass sein Plan nicht aufgeht. Der kleine Mensch scheint nicht zum grossen Knutschlauterzeuger zu wollen. Der alte ist sichtlich verärgert über so viel Undankbarkeit und zieht ab. Da sehe ich meinen Bruder und wir machen uns auf den Weg.

Der Rest des Wochenendes ist ein 80ster Geburtstag. Auf der Feier wird viel geredet. Zu Erzählen darüber gibt es nichts.

 
sach selber was   von Mama